4. Kurzgeschichte
Die letzte Visite
Schwester Miriam arbeitete seit über fünfzehn Jahren im Krankenhaus. Sie hatte nie davon geträumt, in der Notaufnahme zu arbeiten oder Kinder auf die Welt zu bringen. Schon in ihrer Ausbildung hatte sie gespürt, dass sie eine besondere Ruhe im Umgang mit Sterbenden besaß. Daher nannte man sie auch „die Ruhige“. Sie konnte Dinge ertragen, bei denen andere wegsahen: offene Wunden, qualvolles Röcheln, den Moment, wenn ein Patient den letzten Atemzug tat.
Viele Kolleginnen mieden die Palliativstation. „Zu bedrückend“, sagten sie. „Zu viel Tod.“ Miriam dagegen suchte diese Station fast schon bewusst auf. Für sie war es der Ort, an dem sie das Gefühl hatte, wirklich gebraucht zu werden. Sie hörte den Sterbenden zu, auch wenn es nur ein Flüstern war, sie hielt ihre Hände, wenn keine Familie kam.
Die Kolleginnen respektierten sie dafür. Miriam war ruhig, sachlich, aber warm. Manche sagten, sie habe ein Gespür – als würde sie spüren, wann jemand gehen würde. Manchmal saß sie bei einem Patienten, bevor der Monitor aussetzte, ohne dass es vorher Anzeichen gegeben hätte.
„Hier hat alles ein Ende“, hatte sie einmal gesagt, „aber es ist ein ehrliches Ende.“
Manchmal aber vergaß sie, Grenzen zu ziehen. Sie sprach noch von den Verstorbenen, als seien sie da. Sie erinnerte sich an ihre Stimmen, ihre Eigenheiten, und es schien, als begleiteten sie sie durch den Alltag. „Du hängst zu sehr an ihnen“, hatte ihre Oberärztin einmal gesagt. „Du musst lernen, loszulassen. Das wird dich eines Tages noch in den Wahnsinn treiben!“
Doch Miriam konnte nicht loslassen. Vielleicht, weil sie selbst früh gelernt hatte, mit Verlust zu leben. Ihr Bruder war mit nur zehn Jahren an einer seltenen Krankheit gestorben – auf derselben Station, in demselben Krankenhaus. Sie war damals vierzehn gewesen. Seitdem war sie überzeugt, dass der Tod nicht das Ende war, sondern eine Art Übergang.
Und manchmal, in den stillen Stunden der Nachtschicht, glaubte sie, Stimmen zu hören. Sanfte, schwache Stimmen, die ihren Namen flüsterten. Sie hielt das nie für gefährlich – eher für Trost.
Bis zu jener Nacht, als die Stimmen lauter wurden und sich alles, für immer, verändern sollte
Die Palliativstation lag wie ein vergessener Anbau im obersten Stockwerk des alten Krankenhauses. Tagsüber schien sie still, fast friedlich. Doch in der Nacht verwandelte sie sich. Dann hörte man das unregelmäßige Summen der Lampen, das ferne Tropfen von Rohren, das langsame Ticken der Uhren, die hier oben scheinbar immer ein wenig nachgingen.
Schwester Miriam wusste das. Sie arbeitete seit Jahren hier, kannte die Stimmung, die Gerüche – den Geruch von Desinfektionsmittel, vermischt mit etwas, das man nicht benennen konnte: süßlich, dumpf, ein Hauch von Erde. Aber in dieser Nacht war alles anders. Schon beim Betreten des Ganges hatte sie das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden.
Der Flur war ungewöhnlich kalt. So kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte, obwohl die Heizkörper heiß waren. Die Deckenlampen summten nervös, und der Schatten jeder Infusionsstange wirkte länger, als es die Geometrie erlaubte.
Bei ihrer ersten Runde bemerkte sie die Abwesenheit. Zimmer 12. Herr Schneider. Sein Bett war leer, die Decke zurückgeschlagen, als sei er gerade eben noch dort gewesen. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser, halbvoll, das noch leicht vibrierte, als hätte es jemand kurz zuvor abgestellt. Der Tropf hing unberührt am Ständer, der Monitor war ausgeschaltet. Doch das Kissen war warm.
„Unmöglich …“ flüsterte sie. Niemand hatte gemeldet, dass er verstorben oder verlegt worden war. Sie griff nach seiner Akte, doch die letzte Eintragung war leer, nur eine Uhrzeit – Mitternacht – stand dort, ohne Kommentar.
In diesem Moment hörte sie es:
„Miriam …“
Ein Flüstern, ganz nah an ihrem Ohr. Sie wirbelte herum, doch da war nur der Schatten der Infusionsstange, die sich an der Wand entlangstreckte wie ein Finger.
Auf dem Rückweg bemerkte sie die Unruhe. Aus den Zimmern drang ein Gemurmel. Nicht Husten, nicht Seufzen – sondern Worte. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 8. Frau Lenz lag dort, seit Tagen zu schwach zum Sprechen. Doch ihre Lippen bewegten sich nun unaufhörlich.
Miriam beugte sich hinab – und hörte das Wispern:
„Komm … komm … komm …“
Sie stolperte zurück. Und dann fiel es ihr auf: Aus allen Zimmern kam dasselbe Wort. Ein Chor, leise, aber gleichmäßig. „Komm … komm … komm …“
Das Summen der Lampen wurde lauter, das Flackern intensiver.
Sie ging schneller, wollte zur Schwesterstation zurück. Doch der Flur schien sich zu verändern. Er wurde länger, zog sich wie ein elastisches Band in die Tiefe. Türen erschienen, wo vorher keine gewesen waren. Manche Türen standen offen, und Miriam sah Patienten darin, die längst nicht mehr hier waren – Patienten, die vor Jahren verstorben waren.
Und am Ende des Ganges stand jemand. Ein Mann im weißen Kittel. Still, unbewegt. Sein Gesicht lag im Schatten, doch seine Silhouette war makellos, wie aus einem Lehrbuch.
„Visite“, sagte er.
Seine Stimme war dumpf, ohne Emotion, wie ein Echo aus einer anderen Welt.
Miriam wich zurück – und spürte plötzlich eine kalte Hand, die die ihre umschloss. Sie sah hinab: Herr Schneider. Er stand neben ihr, blass, mit eingefallenen Wangen und schwarzen Augenhöhlen.
„Bleib … bei uns“, hauchte er. „Niemand geht allein.“
Sein Griff war fest wie Eisen. Sie riss sich los, ihre Haut brannte vor Kälte. Panisch rannte sie den Flur hinunter.
Doch die Türen sprangen nun nacheinander auf. Aus jedem Zimmer traten Patienten hervor. Frau Lenz mit eingefallenem Brustkorb, Herr Krüger, der vor Monaten verstorben war, ein kleines Mädchen, das hier nie gelegen hatte, aber dessen Gesicht sie von einem Bild im Personalraum kannte.
Alle riefen dasselbe Wort, lauter, im Chor: „Komm … komm … komm …“
Miriam stolperte, fiel auf den Boden. Als sie aufblickte, stand der Arzt über ihr. Sein Gesicht war nun sichtbar. Es war ihres. Ihr eigenes Gesicht, nur bleich, leblos und mit leeren, toten Augen.
„Visite beendet“, sagte er.
Dann erlosch das Licht und um Miriam herum wurde alles dunkel.
Am nächsten Morgen fanden die Kollegen die Station verlassen. Alle Patienten schliefen friedlich in ihren Betten, so ruhig wie nie zuvor. Doch Schwester Miriam war verschwunden. Nur ihr Kittel hing ordentlich über dem Stuhl an der Schwesterstation, als hätte sie ihn dort abgelegt.
Die Stationsärztin blätterte in den Akten – und erstarrte. In Zimmer 12, bei Herrn Schneider, war in der Nacht eine neue Eintragung erschienen, handschriftlich.
„0:00 Uhr – Patient entlassen.“
Darunter eine Unterschrift: „Schwester Miriam.“
Doch niemand konnte erklären, warum auf der Patientenliste an diesem Morgen ein neuer Name stand, sorgfältig mit Kugelschreiber hinzugefügt.
Zimmer 12: Miriam H.
Status: Palliativ.