3. Kurzgeschichte
Das Haus an der alten Allee
Als Lena und David das verlassene Anwesen am Ende der Alten Allee kauften, waren sie überzeugt, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Das Haus, ein zweigeschossiger Bau mit verwitterten Holzläden, deren Farbe in Schuppen abblätterte, wirkte aus der Ferne wie ein verwundeter Riese. Das Dach krümmte sich wie ein Buckel in den Himmel, die Regenrinnen hingen herab wie verrostete Fangzähne, und der Garten war längst vom Unkraut zurückerobert worden.
„Ein bisschen Arbeit, und das wird ein Schmuckstück“, hatte David gesagt. Sein Blick glänzte vor Tatendrang, während Lena sich noch nicht sicher war, ob sie fasziniert oder abgestoßen war von diesem Ort.
Die Nachbarn mieden das Grundstück. Wenn man sie nach dem Haus fragte, wechselten sie das Thema oder senkten die Stimme. Man erzählte sich von merkwürdigen Geräuschen, flackernden Lichtern hinter verschlossenen Fenstern und Schatten, die sich bewegten, obwohl niemand darin wohnte. Ein alter Mann im Ort hatte Lena beim Einkaufen einmal zugeflüstert: „Man hört ihn nachts… und wenn man ihn hört, ist es schon zu spät.“
David winkte all das ab. „Aberglauben“, sagte er und unterschrieb den Kaufvertrag. „Wir renovieren, verkaufen es weiter und machen Gewinn.“
Doch schon in der ersten Nacht änderte sich etwas.
Das Haus atmete. So empfand es Lena, als sie auf der Luftmatratze im noch kahlen Schlafzimmer lag. Jeder Windstoß brachte die Dielen zum Knarren, die alten Fenster zum Pfeifen, als würden sie Worte formen. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn, obwohl sie alle Leitungen abgedreht hatten. Ein dumpfes Grollen vibrierte durch die Wände – als würde jemand langsam, mit schweren Schritten, durch die unteren Räume gehen.
„David?“, flüsterte sie ins Dunkel.
Er schlief tief und fest, sein Atem war ruhig und gleichmäßig.
Am Morgen war alles still. Das Grauen der Nacht wirkte wie ein böser Traum, der sich im Sonnenlicht verflüchtigte. Doch während sie beim Frühstück saßen – auf Klappstühlen, zwischen Kartons und dem nackten Tisch – entdeckte Lena Kratzer im Holz. Längliche, tiefe Furchen, die am Abend zuvor noch nicht da gewesen waren. Sie liefen wie Krallenstriche von einer Ecke zur anderen.
„Vielleicht Mäuse?“, versuchte David, doch seine Stimme klang weniger überzeugend, als er wollte.
Die Renovierung begann. Schon am dritten Tag, als sie den muffigen Keller entrümpelten, stießen sie auf eine zugemauerte Tür. Das Mauerwerk war grob, als hätte jemand es hastig, fast panisch errichtet.
„Sieht nach einem alten Vorratsraum aus“, meinte David und holte Hammer und Meißel. Stein für Stein riss er die Mauer heraus. Dahinter kam ein schmaler Raum zum Vorschein – kaum größer als eine Abstellkammer. Keine Fenster, nur ein niedriger Deckenbalken, an dem dicke Spinnweben hingen. In der Ecke stand ein alter Holzstuhl, daneben ein kleiner Tisch mit einer verstaubten Lampe. Auf dem Boden: ein schwarzes Tagebuch, dessen Ledereinband spröde war wie verbrannte Haut.
Lena wollte es nicht anfassen. Doch David schlug es auf. Die Seiten waren voller krakeliger Schriftzüge, manche verwischt, andere in einer fiebrigen Hast niedergeschrieben.
„Es hört nicht auf“, las er leise. „Er kommt jede Nacht. Er will nicht gehen.“
Die letzten Einträge waren wirrer, als habe die Hand des Schreibers gezittert. Schließlich wiederholte sich nur noch ein einziger Satz, immer wieder, in immer größerer Schrift:
„Ich bleibe.“
Noch in derselben Nacht erwachte Lena von einem Geräusch. Es klang, als würde jemand langsam auf den Stuhl im Keller sinken. Ein leises Knarzen, gefolgt von einem tiefen, rasselnden Atem. Ihr Herz raste. Sie weckte David, und gemeinsam schlichen sie die Treppe hinunter. Der Raum war leer. Nur das Tagebuch lag mitten auf dem Boden, obwohl es am Nachmittag noch ordentlich auf dem Tisch gelegen hatte.
„Vielleicht… hat der Alte hier unten gelebt, bevor er gestorben ist“, murmelte David. Doch seine Stimme zitterte. „Oder er lebt noch immer hier“, flüsterte Lena.
Am folgenden Abend begannen die Lichter zu flackern. Erst kurz, dann länger. Die Glühbirnen summten, bis sie nacheinander mit scharfem Knall zerbarsten. Das Haus lag in vollkommener Dunkelheit. Aus der Schwärze stieg ein Summen auf, wie ein Chor aus Dutzenden Stimmen, die übereinander murmelten, unverständlich, aber drängend. Dann hörten sie Schritte. Ganz deutlich. Schwer. Langsam. Näherkommend.
„Wer ist da?“, rief David.
Die Antwort war nur ein kaltes Lachen. Es kam nicht aus der Ferne, sondern direkt hinter ihnen.
Lena stolperte die Treppe hinauf. Die Tür zum Flur schlug vor ihrer Nase krachend ins Schloss. Das Mondlicht fiel matt durch ein zerbrochenes Fenster – und enthüllte eine Gestalt. Grau, verschwommen, und doch unheimlich deutlich. Ein Mann, mit eingefallenen Wangen, leeren Augenhöhlen, einem krummen Rücken. Er hob eine Hand, knochig und grau, und deutete auf sie.
„Ich… bleibe“, krächzte er.
David packte Lena und riss die Tür auf, als hätte irgendeine unsichtbare Kraft im letzten Moment nachgelassen. Sie rannten hinaus, stolperten über die Schwelle und standen keuchend unter den alten Kastanien. Doch auch draußen, im kalten Nachtwind, spürte Lena den Blick des Mannes noch im Nacken.
Am nächsten Morgen wollten sie das Haus sofort wieder verkaufen. Im Notariat jedoch erfuhren sie, dass dies unmöglich war.
„Der Vorbesitzer – ein gewisser Herr Kranz – hat in seinem Testament verfügt, dass das Anwesen niemals veräußert werden darf“, erklärte die Notarin mit kühler Stimme. „Es soll in seinem Namen bestehen bleiben.“
„Aber… er ist tot!“, protestierte David.
Die Notarin hob die Augenbrauen und musterte ihn sonderbar. „Tot? Herr Kranz lebt. Er wohnt noch immer dort.“
Lena fühlte, wie ihr Blut gefror.
Als sie zurückkehrten, stand die Haustür offen, als habe man sie erwartet. Auf dem Tisch im Flur lag das Tagebuch. Eine neue Seite war aufgeschlagen. Die Tinte glänzte noch feucht im trüben Licht.
In großen, zittrigen Buchstaben stand dort:
„Willkommen zuhause.“